Ziele, kritische Punkte und Mindeststandards

Seite 1: Offene Fragen, Langfristiger Prozess, Qualifizierte Begleitung

Wir hatten bereits eingangs darauf hingewiesen, dass wir bei unserer Suche nach geeigneten Beispielen für dieses Buch abenteuerliche Angebote bekamen von Aktivitäten, die unter dem Schlagwort »Aktivierende Befragung« kursierten. In diesem Kapitel möchte ich auf unserer Ansicht nach unverzichtbare Grundverständnisse und Kriterien hinweisen. Mögliche Verschiedenheiten sollen verdeutlicht und gewürdigt werden – denn es geht nicht um eine völlig gleiche Schablone für alle »Fälle«. Vielmehr möchte ich hier Kriterien an die Hand geben, um unterschiedliche Qualitäten von Aktivierung und Aktivierenden Befragungen erkennen bzw. bei der eigenen Vorbereitung und Durchführung berücksichtigen zu können.

Aktivierung – in aller Munde?

Es scheint manchmal so, als wolle es fast jeder: der aktivierende Staat, die aktivierende medizinische Behandlung, aktivierende Kommunalpolitik oder aktivierender Unterricht in der Schule... Die Erkenntnis, dass alles Handeln an Betroffenen oder Kund/innen nur dann Sinn macht, wenn sie das Ergebnis wollen und selber aktiv an dessen Erreichen beteiligt sind, verbreitet sich. Die Begriffe »Empowerment« (siehe dazu Stark 1993:41 ff und Herriger 91:2ff) , »Aktivierung« (1) oder »Ressourcen-Orientierung« (Schlippe 1998:158) tauchen mittlerweile in fast jedem Konzept (guter) sozialer Arbeit auf. Aber bisweilen scheinen sie wohl eher als Aushängeschild für Beteiligung oder eine vermeintlich besondere Qualität gebraucht zu werden, ohne einen längeren Prozess der Aktivierung, so wie ich ihn verstehe, wirklich gehen zu wollen. Diesen Weg will ich im Folgenden thesenartig beschreiben.

Aktivierende Befragungen brauchen offene Fragen!

Alle zitierten »Klassiker« der Aktivierenden Befragung beziehen sich auf die Bedeutung des offenen, forschenden und nicht bewertenden Fragens: Was meinen Sie? Was würden Sie tun, wenn Sie etwas zu sagen hätten?

In der Erforschung der ganz persönlichen Sichtweise, der Eigeninteressen und der jeweiligen persönlichen Ressourcen (source, engl. = Quelle!) liegt der Kern der Aktivierung. Um im Bild der Quelle zu bleiben: Diese Quellen können nur sprudeln, wenn sie verbunden sind mit ureigensten Erfahrungen, Interessen und Visionen – nach denen muss gefragt werden! Wenn das Ziel bereits vorgegeben ist, wenn geschlossene Fragen gestellt werden, die nur mit Ja oder Nein beantwortet werden können (»Wollen Sie hier eine Bank haben?«), handelt es sich eher um Meinungsumfragen oder auch Manipulation. Dann werden vielleicht die passenden Personen für ein vorher bereits entwickeltes Vorhaben gesucht und gefunden (das kann auch sinnvoll sein), ist aber etwas anderes als eine Aktivierende Befragung.

Aktivierende Befragungen sind keine kurzfristigen Aktionen, sondern der Beginn eines längerfristigen Prozesses

In diesem längerfristigen Prozess sind immer wieder Schlüsselerlebnisse nötig. Von besonderer Bedeutung ist dabei das persönliche Gespräch mit einem/einer aktivierenden Befrager/in, bei der erfahrbar wird: »Meine Meinung ist wichtig«. Wolfgang Stark (Stark 1993:41) bemerkt dazu, dass am Anfang von Empowermentprozessen immer ein emotional erlebter Bruch mit den Routinen des Alltags zu stehen scheint. Später ist es vielleicht eine Bewohnerversamm­lung, bei der erlebt wird: »Es gibt viele andere, die ähnlich sauer sind wie ich«. Oder eine neue Rollenerfahrung wird durch die Übernahme von Verantwortung für die Leitung einer Arbeitsgruppe, einer Versammlung oder beim Gespräch mit Politiker/innen gemacht, sodass die eigenen Kompetenzen und Wirkungsmöglichkeiten ganz anders als bisher erlebt und bewusst werden.

Aktivierung ist, wenn über mehrere Schritte hinweg die Erfahrung gemacht werden kann, es lohnt sich aktiv zu werden, ich kann durch mein Tun gemeinsam mit anderen etwas bewirken, ich bin nicht nur Opfer einer Situation oder eines Konfliktes sondern selber (Mit-)Gestalter/in. Dies kann passieren, »wenn kollektive Lernprozesse initiiert werden, die nicht durch Informationen von oben gesteuert werden, sondern sich an elementaren Bedürfnissen des Nahbereichs orientieren, also selbst erlebte Konflikte, Leidensdruck und Befreiungserfahrungen von Ohnmacht und Fremdbestimmung einschließen.« (vgl. Habermas, Wissenschaftstheorie 164) Solche Erfahrungen können nur dort gemacht werden, wo es wirkliche Konflikte durchzustehen gibt, wo es um Gestaltungs-Kraft, um Macht und konkrete Veränderungen geht – und diese brauchen ihre ganz eigene Zeit! Deshalb:

Aktivierung braucht eine qualifizierte (weitere) Begleitung.

Es ist nicht damit getan, wenn verärgerte Bürger/innen einmal zusammenkommen und beschließen, einen bösen Brief zu schreiben. Es ist wenig wahrscheinlich, dass die erhoffte Veränderung sofort eintritt. Meistens sind mehrere Schritte notwendig, um Ziele zu erreichen.

Wenn dann keine (professionelle) Begleitung oder Unterstützung bei der Planung und Durchführung weiterer Schritte möglich ist, werden nur diejenigen aktiv bleiben, die sich sowieso schon auskannten, die die nötigen Verbindungen und Kenntnisse haben (siehe Kap.: Voraussetzungen für Aktivierung und Partizipation). Für die anderen wird es eine erneute Erfahrung von: »Siehste, man kann ja doch nix erreichen... die da oben machen ja doch was sie wollen...«

Mit solchen Erlebnissen wird Hoffnungslosigkeit und Apathie nur noch weiter verstärkt. So muss »Aktivierer/innen« klar sein, dass sie bereits mit dem Beginn einer Aktivierenden Befragung eine hohe Verantwortung dafür übernehmen, dass später daraus auch wirkliche Verbesserungen oder Veränderungen gemeinsam angegangen und durchgesetzt sowie dafür angemessene Organisationsformen entwickelt werden können. Deshalb sind Voruntersuchungen wichtig!. Sie beinhalten die Möglichkeit zur Überprüfung, ob das geplante Vorgehen für dieses Quartier wirklich das angemessene ist. Hier besteht ein wesentlicher Unterschied zu qualitativen Befragungen, die im Rahmen von Sozialraumuntersuchungen stattfinden, bei denen es vor allem um die Erfassung von Daten und Sichtweisen geht. Enttäuschte Erwartungen auf wirkungsvolle Veränderungen haben eine besonders lange Nachwirkung. Das werden all diejenigen erfahren, die später noch einmal versuchen werden, diese Menschen zu neuem Handeln zu aktivieren. Ihnen wird vermutlich entgegengehalten: »Da waren schon mal welche hier, da hab ich mitgemacht. Aber das hat doch nix gebracht. Ne, lassen Sie mich in Ruhe, das bringt ja doch alles nix!«

Weitere Infos

Siehe Praxisbeispiel »Auf den Anfang kommt es an«.

Seite 2: Lebendige demokratische Kultur, Ziele – Projektstart

Aktivierende Befragungen sind offensive Einladungen zu einer lebendigen demokratischen Kultur!

Ohne Aktivierung benachteiligter Bevölkerungsgruppen, die sich mit ihren Interessen in der Regel nicht in den demokratischen Prozess einbringen, ist Demokratie nicht umsetzbar. Aktivierende Befragungen sind nur da sinnvoll, wo es eine Wertschätzung für offene demokratische Prozesse gibt, wo verschiedene Meinungen und Blickwinkel sowie eigenständiges Denken erwünscht sind und als eine Bereicherung auf dem Weg zu guten Lösungen gesehen werden.

Vor dem Beginn von Aktivierenden Befragungen sollten die Bezüge zu diesen demokratischen Grundwerten bei Auftraggeber/innen, Finanzierer/innen und Durchführer/innen klar dargestellt und in die Aufträge mit »eingeflochten« werden. An dieser Stelle sind professionell Tätige gefragt, nicht alle Aufträge auf »Aktivierende Befragungen« ohne inhaltliche Überprüfung anzunehmen. Hier ist es notwendig, mit Sensibilität für die Interessen des Auftraggebers Profil zu zeigen, ethische und demokratische Standards deutlich zu machen und Freiräume für spätere demokratische Prozesse auszuhandeln. Wenn dies nicht – zumindest theoretisch – vermittelt werden kann, ist eine Aktivierende Befragung nicht das geeignete Mittel!

Diese – wohl dosierte – Klarheit am Anfang kann vorbeugen vor nachträglichen mühsamen Debatten oder sogar Abmahnungen, wenn das, was ursprünglich mit der Befragung beabsichtigt worden sei, angeblich nicht erreicht wurde! Es ist schließlich praktische Wahrnehmung von demokratischen Grundrechten, wenn aktivierte Mieter/innen sich nicht nur an der Gartenarbeit beteiligen wollen, sondern sich darüber hinaus für die Überprüfung der Betriebskostenabrechnung interessieren oder sich für eine Verbesserung der Einkaufsmöglichkeiten im Viertel engagieren. Das sollte Auftraggeber/innen – zumindest theoretisch – vorher klar gemacht werden.

Es gibt verschiedene Ziele bei Aktivierenden Befragungen

Das Hauptziel aktivierender Befragungen ist die Veränderung der Situation im Gemeinwesen im Sinne der dort lebenden und betroffenen Bürger/innen durch deren Aktion (vgl. Hinte/Karas 1989:47). Wenn wir die bunte Landschaft der durchgeführten Aktivierenden Befragungen angucken, zeigt sich eine breite Palette von Zielen, weshalb und wie Aktivierende Befragungen gestartet werden. Es mag paradox klingen, aber mit solchen Aktionen kann auch erreicht werden, dass Leute erst recht passiv bleiben (vgl. Ebbe, Friese 1989:171). Dann nämlich, wenn z.B. die Bedürfnisse erfragt werden um danach allein mit schönen neuen Angeboten oder veränderten Öffentlichkeitsarbeits-Strategien die genannten Ärgernisse zu »regeln«. Damit es gelingen kann, dass neue Menschen wirklich aktiv werden, ist es für alle Praktiker/innen notwendig, folgende Fragen zu klären:

  • Wer bestimmt die Ziele?
  • Was ist das Ziel? Was sind die Ziele?
  • Wem gehören die Ergebnisse?
  • Was geschieht nach der Befragung?

Im Folgenden werde ich verschiedene Ziele kurz vorstellen und Anfragen dazu formulieren.

A.

Sehr häufig werden Aktivierende Befragungen zu Beginn von Projekten initiiert. Meist gibt es für diese Quartiere eine Voreinschätzung, dass hier »etwas passieren« sollte – möglichst gemeinsam mit den Bürger/innen. Die Professionellen formulieren hierbei das vorläufige Ziel, machen aber von Anfang an deutlich, dass die Aktivitäten nach der Befragung in die Hände der Aktivierten übergehen werden. Die Ziele lauten dann:

  • Zur Förderung von selbst bestimmten Engagement wurden Kontakte zu Bewohner/innen geknüpft.
  • Bewohner/innen wurden darin unterstützt, sich klarer über ihre eigenen Interessen zu werden.
  • Interessierte Bewohner/innen haben nach Abschluss der Befragung die Möglichkeit zu einem moderierten Zusammentreffen (Bewohnerversammlung).
  • Dabei finden potenzielle Mitstreiter/innen ihren »gemeinsamen Nenner« (vgl. Seippel, 1976:171) und können gemeinsame Ziele formulieren.
  • Erste gemeinsame Schritte sowie Absprachen zum weiteren, organisierten gemeinsamen Vorgehen wurden verabredet.
  • Die selbst bestimmten Aktivitäten der Bewohner/innen werden von Fachkräften weiter begleitet, wo dies gewünscht und erforderlich ist.
  • Ob es gelingt, dass die Bewohner/innen nach der Aktivierenden Befragung anfangen als eigenständige Akteure zu handeln, hängt nicht zuletzt vom Rollenverständnis (dazu siehe auch Kap.: »Längerfristige aktivierende Arbeit mit Jugendlichen«) und dem Vorgehen der professionellen Begleitung zu folgenden Fragen ab: Werden die Bewohner/innen darin unterstützt eigene Organisationsformen zu entwickeln? Werden örtliche Schlüsselpersonen als gewählte Vertreter/innen gestärkt oder werden sie eher als ehrenamtliche Helfer/innen der Professionellen angesehen?
Seite 3: Sozialraumanalysen, Stadtteil, Stadtteil-Organisationen

B.

Manchmal werden (Aktivierende) Befragungen im Rahmen von Sozialraumanalysen durchgeführt, um damit nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Daten erheben zu können. Das Ziel, das nach Abschluss der Befragung erreicht sein soll, lautet dann:

Mehr und qualitativ bessere Informationen zu einem bestimmten Wohngebiet/Viertel wurden erhoben.

Hier ist die Frage zu stellen: mehr Information für wen? Wem gehören die Ergebnisse? Der Wert guter Sozialraumanalysen als Basis für Entscheidungen von Politik und Verwaltung soll hier nicht in Frage gestellt werden (vgl. Freyberg 1999:49). Es bedarf aber einer klaren Abgrenzung zwischen dem Forschungs- und Datendokumentationsprojekt von Sozialwissenschaftler/innen und dem ganz eigenen »Produkt« der Aktivierung von Menschen mit offenem Ausgang.

Deshalb ist die Aktivierende Befragung eher eine geeignete Methode wenn klar ist (z.B. nach einer Sozialraumanalyse), dass in einer bestimmten Gegend, gemeinsam mit den Bürger/innen nach besseren Wegen zur Lösung von Problemen oder Behebung von Benachteiligungen gesucht werden soll.

C.

Wenn bestehende Einrichtungen im Stadtteil (Dienstleister) Aktivierende Befragungen durchführen, dann lauten die Ziele, die damit erreicht werden sollen:

  • Die Kontakte zu und zwischen den Bewohner/innen wurden intensiviert.
  • Die Kenntnisse über die Interessen, Bedürfnisse und Ressourcen der Bewohner/innen wurden erweitert.
  • Die Angebote und Dienstleistungen wurden im Sinne von ressourcenorientierter Arbeit verbessert.

Die Orientierung an den vorhandenen Stärken und Interessen der Adressat/innen gehört mittlerweile zu den Standards effektiver (Sozial-) Arbeit, wie z.B. bei der Stadtverwaltung/ Sozialplanung, im Allgemeinen Sozialen Dienst des Jugendamtes, bei Wohlfahrtsverbänden, in der Jugendarbeit bis hin zu Wohnungsunternehmen und der Wirtschaftsförderung. In diesem Bereich bieten sich derzeit zahlreiche Finanzierungsmöglichkeiten für Aktivierende Befragungen und die darauf folgende Weiterarbeit. Hier ist es besonders wichtig zu fragen:

  • Wer soll hier wohin aktiviert werden?
  • Wie offen ist das Ergebnis?
  • Wie offen sind die Auftraggeber für die Ergebnisse?

Wenn Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände oder die Verwaltung ihre Arbeit verbessern wollen, geht es ihnen um Rückmeldungen und Wünsche an ihr professionelles Handeln. Außerdem wollen sie den Blick dafür schärfen, wo Kund/innen oder Klient/innen die Bereitschaft haben selber etwas zu tun und ehrenamtliches/freiwilliges Engagement möglich ist. Sie benötigen die Ergebnisse, um ihre eigene Arbeit effektiver tun zu können. Es ist eine Verbesserung der Arbeit, wenn mit und nicht für die Klient/innen und/oder Kund/innen gearbeitet wird. Auf Grund ihres speziellen Arbeitsauftrages haben sie manchmal jedoch eher Interesse an der Beantwortung spezieller, auf ihren Arbeitsbereich bezogener Fragen (z.B.: »Wollen Sie einen Aufzug im sanierten Haus, ja oder nein?«) und weniger Interesse an offenen Fragen. Hier ist es wichtig für Transparenz zu sorgen, damit die Befragten wissen, in wessen Auftrag befragt wird, was mit den Ergebnissen passiert und wer damit weiter arbeiten wird. Gegenüber den Auftraggebern ist hier fachliches Selbstbewusstsein gefragt, das deutlich macht, dass Aktivierung nur mit Ergebnisoffenheit erreichbar ist.

D.

Wenn bestehende Stadtteil-Organisationen (Bürgerinitiativen/Vereine) – meist mit Unterstützung von professionell Tätigen – Aktivierende Befragungen durchführen, dann sind die Ziele, die erreicht werden sollen:

  • Themen und Sichtweisen der Bewohner/innen wurden identifiziert bzw. ins Gespräch gebracht.
  • Die Aktivitäten und das Programm der (Bürger/innen) Organisation wurden erneuert.
  • Wie offen sind die Auftraggeber für die Ergebnisse?

Der Unterschied zu C liegt darin, dass solche Befragungen vor allem von Bewohner/innen selber oder von Professionellen gemeinsam mit aktiven Bewohner/innen durchgeführt werden (siehe auch LAG soziale Brennpunkte Niedersachsen 2001) und dass es dabei um die Stärkung einer bestehenden Bewohner-Organisation geht. Entscheidend für eine neue Qualität von Befragungen ist hier, ob es gelingt, dass die Befragten merken: Hier arbeiten Bürger/innen und Nachbar/innen, die ähnlich denken wie ich, zusammen und können gemeinsam wirklich etwas erreichen! Diese Organisation ist kein Dienstleistungsunternehmen, an das man Aufgaben und Aufträge delegieren kann, sondern es ändert sich nur etwas, wenn Bürger/innen es selber in die Hand nehmen und gemeinsam »handlungsmächtig« werden.

Bei dieser Form der Befragung ist die Vorbereitung und das Training der Befrager/innen zu folgenden Aspekten besonders wichtig: Zum einen die Vertraulichkeit der Gespräche! Es muss ihnen klar sein, dass, wenn sie über Informationen, die sie bei den Besuchen in der Nachbarschaft erfahren haben, »tratschen« , das ganze Vertrauen, das sie über die Gespräche aufgebaut haben, wieder zerstören.

Zum anderen der Respekt vor verschiedenen Meinungen. Es gehört dazu, dass es respektiert wird, wenn sich ein/e Nachbar/in dieser Organisation nicht zugehörig fühlen möchte. Außerdem ist Offenheit für neue Interessierte, die aktiv werden wollen und deren Sichtweisen erforderlich.

Seite 4: Transparente Ergebnisse, Respektvolle Grundhaltung

Die Ergebnisse der Befragung müssen transparent gemacht werden

Die Befragten müssen wissen, wozu ihre Äußerungen benötigt werden und wer darüber informiert wird. Es sollte klar sein, dass die Ergebnisse der Befragung zuallererst den Befragten und Aktivierten gehören! Sie werden ihnen zur Verfügung gestellt und z.B. bei einer Versammlung am Ende der Befragungszeit vorgestellt. Am konsequentesten ist es, wenn ihnen auch danach die Entscheidungen darüber überlassen bleiben, wie sie damit weiterarbeiten (ob sie z.B. damit an die Presse gehen wollen oder wie sie ihr Wissen bei weiteren Schritten strategisch nutzen können). Professionelle, die die Aktivierten begleiten, sollten sie dabei beraten und unterstützen. Dies kann bereits ein guter Aufhänger sein, um das neue, eigenständige Vorgehen der Aktivierten in die Öffentlichkeit zu bringen – nach dem Motto: jetzt wird nicht mehr über uns geredet, sondern wir reden und handeln selber!

Zur Frage, wem die Ergebnisse gehören und wer damit weiterarbeiten kann, gibt es in der Praxis offensichtlich ein recht unterschiedliches Verständnis. Wichtig ist dabei vor allem die Transparenz! Verschiedentlich nutzen Professionelle selber die Ergebnisse, um eine Presseerklärung nach einer Befragung herausgeben. Sie sollten dabei allerdings bedenken, dass sie dann ihre Arbeit darstellen und was bei ihrer Arbeit herausgekommen ist (manche meinen, das seien sie ihren Geldgeber/innen schuldig). Allerdings ist es dann aber auch nicht verwunderlich, wenn ihnen als Professionellen daraufhin die Verantwortung übergeben wird, etwas aus den Ergebnissen zu machen: »...Die haben doch von so vielen gehört, dass hier so schlechte Spielmöglichkeiten sind, warum machen die denn nichts...«.

Aktivierung erfordert eine glaubwürdige, offene und respektvolle Grundhaltung der Aktivierer/in

Wann gelingt Aktivierung? Wann setzt sich jemand in Bewegung? Dafür gibt es keine Patentrezepte, denn es ist ein höchst persönlicher Entwicklungsprozess. Der Philosoph Ernst Bloch sieht den entscheidenden Impuls in der betreffenden Person selber: »Es gilt auch für gute Ohren, für den Mann, der sich etwas sagen lässt: Damit er zuhört, muss er von seiner eigenen Lage her gepackt sein, wie sie sich ihm spiegelt. Erst dann hat das Weitere Aussicht, gehört und verstanden zu werden, erweckt Vertrauen. Das aber gelingt nie von außen und von oben her« (Bloch 1937/1973:403). Aktivierung ist also eigentlich der Prozess, der, meist ausgelöst durch einen Konflikt oder eine Krise (Katharsis), in der aktivierten Person selber stattfindet. Das können andere (z.B. aktivierende Befrager/innen) durch ihr Tun nur anregen und unterstützen – aber auch stören und behindern! Die qualifizierte innere Haltung einer/s Aktivierer/in reflektiert folgende Grundeinstellungen in den Gesprächen:

  • Ich spreche jetzt mit einer/m Expert/in des Lebens hier im Quartier.
  • Ich weiß erst mal nichts oder nur sehr wenig.
  • Ich bin neugierig auf die Antworten.
  • Ich höre wirklich zu, um zu erfassen, wie diese Person die Dinge sieht und was ihr auf Grund ihrer Erfahrungen und ihrer Lebensgeschichte wichtig ist.
  • Ich respektiere diese Person, ihre Meinung und nehme Besonderheiten ihrer Sicht wahr (Einzelheiten ernst nehmen).
  • Ich möchte begreifen, was ihr Eigeninteresse ist und was sie wirklich bewegt.
  • Ich diskutiere nicht über richtig und falsch.
  • Ich überlasse ihr die Entscheidung ob sie sich weiter engagieren will oder nicht.
  • Respekt vor der Entscheidungsfreiheit heißt auch, ich respektiere es, wenn jemand nichts tun will!
  • Ich weiß nicht, was für diese Person gut ist oder was diese Person am Besten machen sollte.
  • Ich mache deutlich, dass das Problem nicht bei mir abzuladen ist – ich bin keine Helferin, aber ich kann eine Weggefährtin sein.
  • Ich zeige Verständnis für die Situation und ihre Sichtweise, aber bleibe nicht unbedingt dabei stehen: auf konstruktive Weise »mute ich zu« oder provoziere.


Dies knüpft an die besondere Kunst der sokratischen Gesprächsführung an, von der sich sowohl Alinsky als auch die Hausers haben anregen lassen: Die Kunst nachzufragen, ohne den anderen unter Rechtfertigungsdruck zu setzten, nicht zu schnell zu verstehen, eine konstruktive Spannung zu erzeugen, sodass neue Antworten und Einsichten gewonnen werden können. Im systemischen Kontext wird dies »Verstörung« genannt: »Der Effekt sind neue Anregungen und Ideen, die die bisherigen überhaupt nicht direkt kritisieren, aber in deren Licht jene irrelevant werden.« (Schlippe 1998:123) Bei all dem ist zu berücksichtigen, dass die ersten Antworten nicht immer das zeigen, was die Menschen wirklich denken. Aktivierung braucht meist mehrere Gespräche! Das heißt, dass die Aktivierende Befragung ein erster wichtiger Kontakt ist, aber es sollte möglich sein, dass weitere Gespräche folgen. Nur in den seltensten Fällen breiten Menschen bereits im ersten Gespräch aus, was sie wirklich bewegt. Dazu ist meist mehr Vertrauen zum Gesprächsgegenüber notwendig.

Seite 5: Bedingende Faktoren

Grenzen des sinnvollen Einsatzes von Aktivierenden Befragungen

Grundsätzlich ist Aktivierung mit Hilfe einer Aktivierenden Befragung nur dort sinnvoll und möglich, wo diese drei Faktoren zusammen kommen:

  • Materielle Rahmenbedingungen, die Ärger oder Leidensdruck bewirken und Anlass geben, etwas verändern zu wollen. Es muss also schon wirklich etwas zu tun, etwas zu verbessern geben!
  • Persönliche Ressourcen der Aktivierten. Entscheidend dabei ist das Eigeninteresse und die Erkenntnis: »Ich habe persönlich etwas davon wenn ich aktiv werde!«
  • Haltung der Aktivierer/in, die geprägt sein sollte von einer Mischung aus Offenheit und Zumutung: »Was Sie tun, ist Ihre Entscheidung. Wenn Sie wollen, können Sie hier etwas bewirken« sowie Ergebnisoffenheit des/der Auftraggeber/in.

Zu 1.

Nicht in allen (Wohn-) Gebieten und Aufgabenspektren sind Aktivierende Befragungen angebracht. Am Besten geeignet sind solche, in denen der Handlungsdruck, Missstände zu beheben, offensichtlich ist, und es wirklich etwas zu verbessern gibt. Außerdem sollte absehbar sein, dass Menschen durch gemeinsames Handeln auch wirklich etwas erreichen können. Gerade für die ersten Schritte nach einer Aktivierenden Befragung ist es wichtig, dass Aktivitäten unternommen werden können, die wirkungsvoll und erfolgreich sind.

Bereiche können zu klein sein für eine längerfristige Aktivierung. Es sollte eine ausreichende Anzahl von Menschen zur Verfügung stehen, damit auch noch Wahlfreiheit besteht sich zu engagieren oder auch nicht. Wenn 1–10% der Menschen sich engagieren, ist dies ein guter Anteil. Ganze Stadtteile sind allerdings in der Regel zu groß, weil persönliche Bezüge und Kontakte wichtig sind. Insbesondere für sozial Benachteiligte gilt, dass ihr Aktionsradius sich aus verschiedenen Gründen eher im Nahbereich befindet. Das Herausfinden der geeigneten Quartiersgrenzen kann z.B. auch ein Ergebnis der Voruntersuchung sein (siehe Kap.: »Auf den Anfang kommt es an«).

Dies knüpft an die besondere Kunst der sokratischen Gesprächsführung an, von der sich sowohl Alinsky als auch die Hausers haben anregen lassen: Die Kunst nachzufragen, ohne den anderen unter Rechtfertigungsdruck zu setzten, nicht zu schnell zu verstehen, eine konstruktive Spannung zu erzeugen, sodass neue Antworten und Einsichten gewonnen werden können. Im systemischen Kontext wird dies »Verstörung« genannt: »Der Effekt sind neue Anregungen und Ideen, die die bisherigen überhaupt nicht direkt kritisieren, aber in deren Licht jene irrelevant werden.« (Schlippe 1998:123) Bei all dem ist zu berücksichtigen, dass die ersten Antworten nicht immer das zeigen, was die Menschen wirklich denken. Aktivierung braucht meist mehrere Gespräche! Das heißt, dass die Aktivierende Befragung ein erster wichtiger Kontakt ist, aber es sollte möglich sein, dass weitere Gespräche folgen. Nur in den seltensten Fällen breiten Menschen bereits im ersten Gespräch aus, was sie wirklich bewegt. Dazu ist meist mehr Vertrauen zum Gesprächsgegenüber notwendig.

Zu 2.

Aktivierende Befragungen machen dann keinen Sinn, wenn deutlich wird, dass die Ressourcen der dort lebenden Menschen nicht ausreichen oder wenn nicht genügend Menschen gefunden werden können, in deren Eigeninteresse es liegt, sich für eine bestimmte Angelegenheit zu engagieren. Aber Vorsicht vor vorschnellen Einschätzungen! Ressourcen können sein: Zeit, Kontakte, Beziehungen, familiäre Netzwerke – gerade bei Migrant/innen –, (Konflikt)- Erfahrungen, Arbeitslosigkeit, Kontaktwünsche, Wünsche nach sinnstiftender Tätigkeit (bei Hausfrauen/männern genauso wie bei Leuten mit »nicht erfüllenden« Berufen) – solche Ressourcen werden nicht unbedingt im ersten Gespräch erkannt!

Zu 3.

Grenzen können sich auch dort zeigen, wo es an der Offenheit des Trägers/ Auftraggebers mangelt, wo Menschen über Befragungen eher manipulativ zu bestimmtem Verhalten oder Meinungen gedrängt werden sollen. Grenzen sind auch dort erreicht, wo nicht klar ist, wer die Ergebnisse erhält (Transparenz) bzw. wenn die Ergebnisse anders genutzt werden, als zunächst behauptet. Dann werden Menschen ausgehorcht und entmündigt und nicht aktiviert und gestärkt!

Aktivierend arbeiten kann, ausgehend von der oben beschriebenen inneren Haltung, außerdem nur eine Person, die persönlich daran glaubt, dass sich etwas bewegen lässt, die eigene Erfahrungen in der Bewältigung von Konfliktsituationen gemacht hat und neben einer guten Portion Humor und Hoffnung immer einige mögliche praktische Schritte vor Augen hat!

Um eben diese Grenzen zu erkennen ist es wichtig, Voruntersuchungen vor dem Einstieg in die Aktivierende Befragung zu machen. Dabei wird mittels Vorgesprächen und Erkundungen vorab geklärt, ob sich ein Gebiet oder ein Auftrag für eine Aktivierende Befragung und die daraus folgende Arbeit eignet. Gründe für den Abbruch des Vorhabens, eine Aktivierende Befragung durchzuführen, könnten sein:

Zu wenig Unmut oder Empörung, es sind keine Ansatzpunkte für den Einstieg in konkrete Aktionen erkennbar oder die zentralen Probleme betreffen Entscheidungsebenen, die nicht vorrangig auf lokaler Ebenen zu beeinflussen sind. Es zeigt sich verbreitete Apathie, die Leute regen sich nicht (mehr) auf und haben kein Vertrauen in mögliche Veränderungsprozesse. (2)

Zusammenfassend sehe ich folgende Mindeststandards für Aktivierende Befragungen:

  • Es ist offen, welche Ergebnisse heraus kommen: die Befragten können selber entscheiden, wie sie die Ergebnisse der Befragung bewerten und welche Konsequenzen sie daraus ziehen wollen.
  • Die Ergebnisse gehören zuallererst den Befragten und nicht dem Auftraggeber, der Stadtverwaltung oder sonstigen Institutionen!
  • Die Interessen der Beteiligten sind transparent: Es wird darüber informiert, wer hier fragt, mit welchem Ziel oder welchem Interesse und wer Zugang hat zu den Ergebnissen bzw. wer darüber informiert wird.
  • Es gibt eine Perspektive (besser noch eine Garantie) für eine nachhaltige Unterstützung und Begleitung der Aktivierten (Befragten) im Anschluss an die Befragung.
  • Die Befrager/innen werden für ihre Aufgaben qualifiziert vorbereitet und trainiert.
Seite 6: Literatur
Literaturtipp

Bloch, Ernst: Prager Weltbühne 1937. Zitiert in: Seippel, Alf: Handbuch Aktivierende Gemeinwesenarbeit. Gelnhausen 1976, S. 163.

Ebbe, Kirsten/Friese, Peter: Milieuarbeit. Stuttgart 1989.

Freyberg, Thomas v.: Sozialraumanalyse als Lernprozess. Frankfurt 1999.

Habermas, Jürgen: Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik. In: Adorno, Theodor W. u.a.: Positivismusstreit, Frankfurt am Main, 1972, S. 164. Zitiert in: Seippel, Alf: Handbuch Aktivierende Gemeinwesenarbeit. Gelnhausen 1976, S.163.

Herriger, Norbert: »Empowerment« – Annäherungen an ein neues Fortschrittsprogramm in der sozialen Arbeit. In: Neue Praxis 3/91,S. 220-229.

Hinte, Wolfgang/Karas, Fritz: Studienbuch Gruppen- und Gemeinwesenarbeit. Neuwied 1989.

Hinte, Wolfgang/Lüttringhaus, Maria/Oelschlägel, Dieter: Grundlagen und Standards der Gemeinwesenarbeit. Münster 2001.

LAG Soziale Brennpunkte Niedersachsen (Hrsg.): Bewohner/innen fragen Bewohner/innen. Hannover 2001.

Schlippe, Arist v.: Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Göttingen 1998.

Stark, Wolfgang: Die Menschen stärken. In: Blätter der Wohlfahrtspflege – Deutsche Zeitschrift für Sozialarbeit. 2/93, S.41-44.

Witschke, Reinhard: Ehrenamt und Selbsthilfe von A bis Z. Düsseldorf 2001.

Seite 7: Fußnoten

(1) Richard und Hephizibah Hauser definierten »Aktivierung« in ihrem Buch 1971 wie folgt: Aktivierung ist Bestandteil des sozialen »Trainings« und führt von einem negativen zu einem anti-negativen Stadium der sozialen Entwicklung. Der anti-negative Prozess wirkt den »Giften« der Gleichgültigkeit (Apathie) und »Gewalttätigkeit« dadurch entgegen, dass er zur »Impfung« gegen sich selbst verwendet wird. Dann kann er den einzelnen oder die Gruppe befähigen, Gewalttätigkeiten in Entrüstung, Gleichgültigkeit in Interesse und Zweifel umzuwandeln und damit einst gehemmte Energien zu konstruktivem Wachstum zu befreien. Die Aktivierung kann durch eine »Katharsis« stimuliert werden. Jedoch, wie stark solcher Anstoss auch wirkt, an sich ist er weder ein positiver noch ein weiterführender Prozess; soziales Training muss sich ihm anschließen, bis Vitalisierung einsetzt. Vitalisation (Belebung) ist der Vorgang sozialer Umformung, bei dem die negativen oder anti-negativen Komponenten der »Aktivierungsperiode« in ihre positiven Gegenwerte umgewandelt werden. Entrüstung in »Mut«, Wissbegierde und Zweifel in »Logik«, der Wille zum Zusammenhalten in »Identifikation« und der Wille, Negatives zu bekämpfen, in die »Hoffnung«, etwas Positives zu leisten. (Die Anführungsstriche markieren Begriffe, die in dem Buch an anderer Stelle ausdrücklich definiert werden.) Hauser/Hauser 1971:479 und 494; weitere Definitionen in Hinte/ Lüttringhaus/Oelschlägel 2001:181 ff. und Witschke 2001:3.

(2) Es kann dann sinnvoller sein, zunächst ein weniger apathisches Quartier für eine Aktivierende Befragung zu wählen. Damit kann auch im Nachbargebiet sichtbar und erfahrbar werden, dass Verbesserungen machbar sind. Zugleich gilt es für die eher apathischen Bevölkerungsgruppen mit anderen Mitteln daran zu arbeiten, dass die Voraussetzungen für Partizipation verbessert werden.

Autor

Dieser Beitrag von Hille Richers ist folgener Publikation entnommen:
Handbuch Aktivierende Befragung: Konzepte, Erfahrungen, Tipps für die Praxis (Bonn 2012)
Die Publikation finden Sie hier.