Ad-hoc-Beratung nebenbei und peer-Ansatz

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In vielen Projekten fiel uns auf, dass Beratung oft ad hoc und gleichsam nebenbei erfolgt. Viele unterstützende Impulse kommen von anderen Müttern mit Migrationshintergrund, also von peers. Im Vordergrund der Angebote steht oft die Möglichkeit, sich mit anderen Müttern und Kindern zu treffen und nicht das Beratungsangebot.

Viele Mütter kommen nicht primär, um bestimmte Probleme zu besprechen, sondern weil sie ganz einfach die Gespräche und die Nähe zu anderen genießen. »Die Mütter können hierher kommen, um zu quatschen.« Oft beruht die Motivation, einen offenen Treff aufzusuchen, auf der Hoffnung, dort Anschluss an andere Frauen zu finden, die ebenfalls neu zugewandert sind und sich erst zurechtfinden müssen.

Dass quasi nebenbei Informationen ausgetauscht, Erfahrungen mitgeteilt, Tipps gegeben und auch mal Beratungen durchgeführt werden, sind idealerweise Effekte, die sich in einem offenen Treff »wie von selbst« ergeben.

In einem unverbindlichen und geselligen Setting kann deutlich werden, welche Fragen im Alltag der Nutzerinnen anstehen. Hierzu werden meist sehr alltagspraktische und unterstützende Impulse gegeben. Und zwar nicht nur von Mitarbeiterinnen, sondern durchaus auch von Müttern. Das Beispiel aus einem Treffpunkt, in dem einer Frau das Stillen mit der Milchpumpe gezeigt wurde, haben wir ja bereits geschildert. Ein kleiner pragmatischer Hinweis, der viel Stress im Familienalltag beseitigt hat. Dieses Beispiel steht unseres Erachtens stellvertretend für die sehr alltagsnahe, lebensweltbezogene Ad-hoc-Beratung nebenbei, die auch in vielen anderen Projekten praktiziert wird.

Wesentliche Faktoren, die das Gelingen dieser Arbeit unterstützen, sind die Unverbindlichkeit, im Sinne einer konsequenten Freiwilligkeit, und die offene Gesprächsatmosphäre. Dazu eine Mitarbeiterin:

»Wir sprechen dann von Niedrigschwelligkeit, wenn es wirklich so ganz unverbindlich geht: Also ich komme als Mutter zu keinem bestimmten Thema, ich will nicht zur Beratung, ich will einfach mal gucken, was macht ihr denn, und ich kann plaudern, wenn ich will und wenn nicht, dann lass ich es auch, dann guck ich einfach nur zu und gehe wieder.«

So entsteht ein Ort der nachbarschaftlichen Begegnung, der durch Gespräche und Kinderbetreuung eine alltagsnahe Entlastung bietet. Die Mütter können nachbarschaftliche Kontakte entwickeln, Informationen austauschen oder einfach nur gemütlich miteinander quatschen. Gleichzeitig ist es möglich, zu Problemen, die offensichtlich werden, ad hoc entsprechende Impulse, Anregungen und Beratungen zu erhalten, sei es durch die professionell Tätigen, externe Kooperationspartner oder andere Mütter.

In vielen Projekten wird das Kochen und gemeinsame Essen als ein ide-aler Anlass gesehen, zusammenzukommen. »Kochen läuft immer!« so eine unserer Gesprächspartnerinnen. In der Atmosphäre einer vertrauten Alltagshandlung ergeben sich an Herd und Tisch viele Themen, welche die Menschen bewegen und interessieren: Ernährungsfragen, Erziehungsfragen, Beziehungsthemen et cetera. Aufmerksame Mitarbeiterinnen entwickeln ein Gespür dafür, wann es angebracht oder notwendig ist, etwas als Fachfrau zu kommentieren, und wann stattdessen Zurückhaltung angebracht ist. Denn oft sind Hinweise anderer Mütter leichter zu akzeptieren als professionelle Expertenmeinungen.

Eine über viele Jahre in diesem Bereich tätige Kollegin beschreibt ihren Ansatz sehr pragmatisch. Niedrigschwellige Beratung bedeutet für sie, dass »… die Leute, die in den Beratungstreff kommen, kein Problem haben müssen. Sie können erstmal in Ruhe ankommen, Zeitung lesen, Kaffee trinken, Kekse essen … und falls es dann doch etwas gibt, was sie beunruhigt, wo sie Hilfe brauchen, Rat suchen oder so, besteht immer die Möglichkeit, mit einem von uns zu reden und zu sehen, ob man die Belange hier regeln kann oder ob man weiter vermitteln muss.«

In den meisten Projekten gibt es keine Anmeldung, und eine Terminvereinbarung ist ebenfalls unnötig. Die Beratung kann aufgrund der ausreichenden personellen Ausstattung sehr spontan erfolgen. Sie läuft quasi nebenbei.

»Wir essen Kekse und gucken den Kindern zu oder spielen mit den Kindern, und daraus entwickelt sich oft ein Gespräch, das manchmal tiefer geht als die ganz ›offiziellen‹, die man auf Termin hin macht.«

Ein alltags- und lebensweltnahes Beratungssetting benötigt eine hoch aufmerksame und reflektierte Professionalität der Mitarbeiterinnen. Die zentralen Prinzipien sozialraumorientierter Arbeit Wertschätzung, Achtung, Partizipation, Ressourcenorientierung sowie Prozessorientierung und Hilfe zur Selbsthilfe müssen methodisch in die Praxis übersetzt werden. Das klingt leicht, ist aber nicht einfach.

Wir möchten an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, einen etwas tieferen Einblick in die Arbeit eines Mutter-Kind-Treffs zu gewähren, in dem Ad-hoc-Beratung nebenbei und Peer-Hilfe durchgängig praktiziert werden. Grundlage dieser Darstellung ist eine intensive teilnehmende Beobachtung im Projekt Shehrazad. (2)

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(2) Das Folgende ist ein leicht geänderter Auszug aus der Forschungsarbeit von Tabea WITT (2006), die sie im Kontext unserer Praxisforschung angefertigt hat.

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Auf die Frage, warum die Frauen denn herkommen, kamen u.a. folgende Antworten: »Um zu quatschen, zu reden, zu lernen. Wir reden hier auch über politische Themen, man kriegt viel mit. Es ist hier einfach sehr abwechslungsreich.«

Dieser offene Treff nutzt das Bedürfnis der Mütter nach Kontakt und Austausch. Durch die vielfältigen Kommunikations- anlässe, die er bietet, kommen die Frauen ins Gespräch. Automatisch beginnen sie, sich beim Teetrinken, beim gemeinsamen Kochen, beim Spielen mit den Kindern usw. über die Themen ihres Alltags auszutauschen. So gelingt ein Ansetzen an den echten Themen der Frauen.

Das war übrigens bereits in der konzeptionellen Phase so geplant. Es sollte ohne große didaktische Struktur einfach direkt bei den Frauen angesetzt werden. Zum einen werden die Frauen im Sinne eines demokratischen Verständnisses sehr ernst genommen, weil Selbstbestimmung ermöglicht wird und nicht etwa von Pädagoginnen gesetzte Ziele an den Frauen »abgearbeitet« werden. Zum anderen wird ein effektives Lernen ermöglicht, da direkt an aktive Themen angeknüpft wird, welche die Frauen beschäftigen und bei denen sie einen Unterstützungsbedarf und vor allem ein Veränderungsbedürfnis verspüren. Ein Jugendamtsmitarbeiter beschreibt dies als grundlegenden »Geist« der Einrichtung:

»Wir haben uns vorgenommen, wir schauen erst mal, wie sich die Kommunikation von den Müttern aus etabliert, und dann sehen wir, ob es Ansatzpunkte gibt, das eine oder andere zu unterstützen und zu fördern.«

Diese scheinbare Strukturlosigkeit ist für die Mitarbeiterinnen eine große Herausforderung, da sie, entgegen dem momentanen Trend von Schulungen und Kursen, den Frauen kein festes, didaktisch durchgestyltes Programm bieten. »Wenn du als Mutter hierher kommst, kannst du mitbestimmen. Du kannst etwas mit uns gemeinsam entwickeln. Wir sprechen miteinander und dann entdecken wir vielleicht etwas, was wir machen können.«

Konsequenterweise werden auch Tagesablauf und Programm des Treffpunktes von den Frauen gestaltet. Dabei kommt es immer wieder zu einem Erfahrungsaustausch und Diskussionen. Die Frauen machen sich über die Standpunkte der anderen Gedanken und erweitern so ihren eigenen. Da die nötige Vertrauensbasis im Lauf der gemeinsam verbrachten Zeit anwächst, können die Frauen leichter Anregungen der anderen annehmen und ihr eigenes Bild erweitern. Der Mitarbeiter des Jugendamtes, der die Konzeption der Einrichtung stark mitgeprägt hat, vertritt die Ansicht, dass die Auseinandersetzung mit den für die Familien wichtigen Themen von alleine kommt: »Ich denke, da, wo Mütter von kleinen Kindern zusammenkommen, werden Erziehungsfragen und alles, was mit Kindern zusammenhängt, immer wieder automatisch angesprochen. Anderes wird durch das Verhalten der Mütter mit ihren Kindern aktuell.«

In den Gesprächen geht es meist um alltagsnahe Dinge wie Einkaufsmöglichkeiten, Wohnungssuche, Erziehungsfragen und Kindesentwicklung oder um den Alltag von Migrantinnen in Deutschland, zu dem z.B. eine Reihe typischer Behördenangelegenheiten gehört. Es geht aber auch um Gesundheitsfragen, politische Geschehnisse, Sexualität, Liebesgeschichten, Themen der eigenen Entwicklung, Berufstätigkeit, u.v.m. In den Interviews wurde deutlich, wie sehr die Frauen diesen Austausch schätzen. Auf die Frage, was ihnen an diesem Treffpunkt besonders gut gefällt, antwortete eine Frau sehr aussagekräftig: »Das Reden und Zuhören.«

»Ich kann herkommen, wann ich will, kann über alles Mögliche reden und einfach mit anderen zusammen sein. Das ist besser für mich und für meine Kinder.«

»Wenn man hierher kommt, dann hört man viel und erlebt jeden Tag neue Sachen mit den anderen.«

Durch die gewonnene vertrauensvolle Atmosphäre wird kaum ein Themenbereich tabuisiert: Auch streng muslimische Frauen reden über Verhütung und ähnliche Dinge ohne Vorbehalte. In der geschützten Gruppe ist scheinbar Raum für nahezu alles. Das bestätigt auch der Mitarbeiter des Jugendamtes. Er hält gerade das Thema Sexualität für ein »heißes Thema in der Müttergruppe«, genau wie auch das Thema »Männer.«

Die Mitarbeiterinnen aus dem Projekt betonen, dass, gerade weil sie so viel Zeit mit den Frauen verbringen und viel Spaß miteinander haben, oft lachen und auch belanglos scheinende Themen, wie Kosmetik und Haarentfernung miteinander teilen, die Basis für ernste Gespräche gegeben ist: »Das ist alles eine Kette, gehört alles zusammen.«

Eine Mutter bestätigte diesen Zusammenhang im Interview. Auf die Frage, was ihr im Shehrazad besonders gut gefalle, sagte sie: »Die Gespräche. Sie sind tiefgehend und trotzdem ist hier alles ganz locker und überhaupt nicht steif. Wir können hier über alles reden, auch über wirklich intime Sachen. Das ist gar kein Problem, auch nicht unter den muslimischen Frauen. Wir hatten hier schon die krassesten Gesprächsthemen, Bettgeschichten und so. Und B. [eine ehemalige Mitarbeiterin] hat das dann alles immer für mich übersetzt (lacht). Ja und viel gelacht haben wir hier auch. Wirklich viel gelacht.«

In der Peer-Hilfe kommt die Annahme, dass die Mütter viele Kompetenzen mitbringen und Experten ihres Alltags sind, deutlich zum Tragen: Gerade weil sie sich in ähnlichen Situationen befinden, können sich die Frauen hilfreich zur Seite stehen und gegenseitig zum Vorbild werden. Ein Beispiel dafür sind die Überlegungen einer kurdischen Frau, ob sie ihre Tochter in eine Kita geben soll:
»Ich habe bei den anderen Müttern gesehen, dass es ganz schön ist, wenn die Kinder mal weg sind. (lacht). Die Zwillinge von F. [eine andere Mutter] sind doch auch in einem Kindergarten. Da haben sie richtig gut Deutsch gelernt. Das ist wichtig, wenn sie in die Schule kommen.«

Eine sehr wichtige Säule zur Weiterentwicklung der Frauen ist der Aus-tausch in der Müttergruppe, die sogenannte Peer-Beratung. Damit dieser Austausch möglichst vielfältig ist und diskussionsfördernde, gegenteilige Ansichten zusammentreffen, ist eine gute Mischung der Frauen wichtig: zwischen den Kulturen und Ethnien genauso wie zwischen konservativen und moderneren Frauen. Die Frauen im Shehrazad erleben diese Mischung als etwas sehr Gutes: »Alle sind Ausländer, das ist schön. Man hat Gemeinsamkeiten. Aber auch, dass deutsche Frauen kommen, ist gut. Hier können wir uns wirklich kennenlernen und verständigen. Auf der Straße ist das anders.«